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Mit zwei Rädern um die Ostsee

Ein Bericht von einer Fahrradtour im Spätsommer 1995
Von Heiko Purnhagen und Carsten Stolzenbach
 

Intro

Manchmal sind Schnapsideen die besten. Die Idee zu dieser Tour entstand allerdings bei ein paar Pints of Guinness im Irish Pub - mithin handelte es sich also mehr um ein Bieridee: die Umrundung der Ostsee mit dem Fahrrad. Nach längerer Planung ging es von Mitte August bis Ende September 1995 per Fahrrad von Dänemark über Schweden, die Åland-Inseln und durch Finnland bis ins Baltikum nach Litauen. Insgesamt waren wir 2700 km bzw. 1600 km mit Rad und Zelt unterwegs und haben Sonne, Wind und Regen erlebt, Hügel, Pannen und Umwege hinter uns gebracht und Fährüberfahrten, Badeplätze und Saunen genossen und werden von alledem hier ein wenig zu berichten versuchen.

Dänemark

Früh morgens trafen wir uns mit unseren vollbepackten Rädern im Hauptbahnhof von Hannover und bestiegen den InterRegio, der uns in insgesamt etwa 5 Stunden Fahrzeit nach Rostock brachte. Und als wir dann endlich unsere Räder samt Gepäck durch eine Menge Kids hindurch, die mit einer faszinierenden Rücksichtslosigkeit den Zug enterten, auf dem Bahnsteig versammelt hatten, konnte unsere Radtour so richtig beginnen. Zunächst ging es zum Rostocker Seehafen und von dort mit der Fähre bei herrlichstem Wetter nach Gedser in Dänemark.

Auch wenn Møns Klint den eindrucksvollsten Anblick immer noch dann bietet, wenn man es in der Morgensonne von See aus betrachtet, so hatten wir beide trotzdem große Lust, zunächst einen Abstecher dorthin zu machen. Wenn es häufig nur einige 10 Meter Höhenunterschied waren, so merkten wir doch, daß Møn etwas hügelig ist. Und die letzten Meter der Sandpiste, die zum auf rund 120 Meter gelegenen Store Klint führt, mußten wir unsere vollgepackten Räder schieben. Oben angekommen, suchten wir uns eine ruhige, schattige Ecke direkt an der Abbruchkante der Klippe und genossen die Brombeeren und die Karotten, die wir vorher bei einem kleinen Verkaufsstand am Straßenrand erstanden hatten. Solche kleinen Selbstbedienungs-Stände (Geld in die Kasse legen und Ware mitnehmen) finden sich bei vielen dänischen Bauernhöfen.

Danach ging es in direkter Richtung gen Norden. Um uns den Stadtverkehr zu sparen, ließen wir København östlich liegen und stießen erst bei Kokkedal wieder an die Küste des Øresund und fuhren von dort durch die sehr schönen Badeorte Humlebæk und Espergærde nach Helsingør. Die ersten 320 km in knapp zweieinhalb Tagen - und das sollte sich Urlaub nennen?

Schweden

Zunächst fuhren wir von Helsingborg entlang der Westküste bis nach Göteborg. Nördlich von Helsingborg ging es durch Weizenfelder, bis uns kurz vor Båstad mit dem Höhenzug des Hallandsås die erste richtige Steigung herausforderte. Gut 150 Höhenmetern auf kurzer Strecke bei brütender Hitze forderten so manchen Schweißtropfen und ließen erste Zweifel an dem Sinn einer Fahrradtour mit vollem Gepäck aufkommen. Und als man dachte, man hätte es geschafft, ging es hinter einer Kurve doch noch ein Stück weiter hoch. Dafür war die Abfahrt einfach spitze. Es ging fast noch steiler herunter als hinauf, so daß wir in hohem Tempo innerhalb weniger Minuten die gewonnene potentielle Energie verbraten hatten und uns in Båstad wieder auf Meereshöhe wiederfanden!  In großen Teilen konnten wir nun dem "Ginstleden" bis nach Göteborg folgen. Der "Ginsterweg" ist ein gut ausgeschilderter Fahrradweg entlang der Küste, der Hauptstraßen meist meidet. Hinter Halmstad führte der Weg auf einer ehemaligen Bahntrasse fern ab jeden Verkehrs nach Harplinge. Alte Bahntrassen zu Fahrradwegen umzufunktionieren ist sicher eine gute Idee, die sich die Deutsche Bahn angesichts vieler Streckenschließungen (wenn diese schon unbedingt als nötig erachtet werden) auch mal überlegen sollte ...

Leider blieb unsere Tour nicht von technischen Problemen verschont. Neben einem Platten und einigen Speichenbrüchen (natürlich hinten rechts ...) machte uns die Qualität unserer Lowrider etwas zu schaffen. Während eines zügig durchfahrenen Schlagloches ließ sich irgendwo im Bereich von Heikos Vorderrad ein Knacken vernehmen, und daraufhin schien einer seiner beiden Lowrider relativ wackelig zu sein. Es zeigte sich, daß der Lowrider direkt an der Befestigungsöse gebrochen war, mit der er neben der Vorderradachse an der Gabel verschraubt wurde. Nachdem Heiko diese "Sollbruchstelle" bereits in Dänemark mittels Draht und Zange provisorisch geflickt hatte, löste sich die Verbindung in Schweden während einer rasanten Abfahrt wieder und es bestand die Gefahr, daß die Lowrider bei zu starken Schwingungen in die Speichen des Vorderrades kommen könnten. Diesmal behob Heiko den Fehler mit Hilfe der Querstange (8mm Rundstahl) eines alten Gartenstuhls, den er im Unterholz fand. Mit einer Feile teilte er diese Stange in der Mitte und stabilisierte seine beiden Lowrider damit so gut, daß das Thema Lowrider für ihn in diesem Urlaub vergessen werden konnte. Man muß sich nur zu helfen wissen ...

Daß dieses die längste Etappe unserer Tour werden würde, hatten wir uns morgens beim Aufbruch in Göteborg auch nicht gedacht. Da es in der Nacht den ersten Regen unserer Tour gegeben hatte, war die Temperatur mittlerweile sehr erträglich geworden, bzw. zunächst fast schon als kühl zu bezeichnen. Mit dem Wind im Rücken gingen uns die gut 80 km entlang des Götaälv bis Trollhättan trotz einiger Steigungen recht locker von den Pedalen. So waren wir bereits am frühen Nachmittag dort. Ein Vergleich zwischen Straßenkarte und Campingführer ließ uns eigentlich nur zwei Möglichkeiten für den weiteren Verlauf des Tages: entweder bereits hier Quartier beziehen oder nochmal die gleiche Strecke dranhängen und bis zum nächsten Campingplatz nach Lidköping radeln. Da wir uns noch recht fit fühlten und außerdem vorhatten, bereits in fünf Tagen in Stockholm zu sein, entschieden wir uns für die zweite Alternative. Wir hofften, dadurch später vielleicht noch einen Pausentag einlegen zu können. Klarer Trugschluß!

Also ging es zunächst zwischen den beiden Hochplateaus Hunneberg und Halleberg (zwei Reservate für seltene Tierarten) hindurch weiter. Gegen Abend, als die Sonne schon tiefer stand und für ein warmes Licht sorgte, leuchteten die Weizenfelder, durch die wir fuhren, besonders schön. Als wir nach 163 Tageskilometern gegen 22 Uhr in Lidköping ankamen, dämmerte es bereits stark und wir mußten unser Zelt im Halbdunkeln aufbauen. Nach dieser Tour gönnten wir uns erstmal eine kräftig fettige Portion Fischstäbchen und genügend Bier.

Auf unserer Tour durch das schwedische Inland, das uns zwischen Vännern und Vättern hindurch bis nach Stockholm führte, bemerkten wir erstmalig die doch recht späte Jahreszeit, in der wir unterwegs waren: es wurde merklich kühler und auch regenerisch - und je weiter wir ins Hinterland kamen, desto ruhiger wurde es. Teilweise trafen wir für eine Stunde und mehr auf kein Auto. Es ging kilometerlang nur durch Wald, ohne eine Menschenseele zu treffen. Da es nicht mehr ganz so heiß war, ließen sich auch die jetzt immer öfter auftretenden Steigungen recht gut bewältigen. Außerdem waren wir mittlerweile in Form.

Auf einigen Campingplätzen waren wir fast die einzigen Gäste. Auf einem Platz an einem Übergang über den Göta Kanal wurde es abends auf einmal doch nochmal richtig laut: ein Ausflugsdampfer kam den Kanal entlang. Mitten aus der absoluten Dunkelheit erschien ein hellbunt beleuchtetes Schiff von dem laute Musik und Stimmen durch die Nacht hallten. Eine schwimmende Party! An der Schleuse ein lautes "Hallo" und dann waren sie schon wieder weg und man konnte sie nur noch einige Minuten verschwinden hören, bis uns Dunkelheit und Ruhe wieder ganz eingenommen hatten. Ein fast gespenstisches Erlebnis ...

Südlich am Hjälmaren entlang und noch einmal quer durch endlose Wälder ging es nach Mariefred, dem Ort, in dem Schloß Gripsholm steht. Wir hofften, am nächsten Tag von hier aus mit einem alten Dampfschiff Stockholm erreichen und somit dem Stadtverkehr entgehen zu können. Leider fuhr das Schiff nur spätnachmittags nach Stockholm zurück, so daß wir doch noch den Weg per Fahrrad auf uns nehmen mußten. Eigentlich konnte der letzte Rest nach Stockholm ja nicht mehr besonders viel sein - dachten wir. Nachdem wir uns in Södertälje aufgrund sehr schlechter Ausschilderung hoffnungslos verfahren hatten, ging es noch endlose Kilometer durch die Vororte Stockholms, bis wir dann nach doch unerwarteten 80 Tageskilometern die Wohnung einer langjährigen Freundin von mir erreichten.

Nach zwei Wochen in freier Natur war es recht ungewohnt für uns, wieder in einem Wohnzimmer platznehmen zu müssen. Der erste Teil unserer Tour war erstmal vorbei und wir waren schon sehr stolz auf das bisher geleistete: 1200 km in nicht einmal 12 Tagen! Wobei uns erst so richtig klar wurde, welch Kilometerfresserei wir betrieben hatten ...

Nachdem Heiko unerwartet für ein paar Tage nach Hause mußte, machte ich mich nach drei ruhigen Tagen in Stockholm am frühen Morgen auf den Weg zum Fähranleger der Waxholmsbolaget. Dieses ist die Schiffsflotte, die von Stockholm aus zu fast jeder der vorgelagerten Inseln im Schärengarten fährt. Ich wollte eine schöne Bootstour durch die Inseln mit dem angenehmen Umstand verbinden, mir den Stockholmer Stadtverkehr ersparen zu können und erst außerhalb der Stadt losfahren zu müssen. Eine wunderschöne Fahrt. Alle Nase lang änderte sich die Aussicht und eine Insel gab wieder den Blick auf die nächste frei. Am liebsten wäre ich auf jeder Insel ausgestiegen und hätte sie besichtigt.

Nach über zwei Stunden Fahrt verließ ich das Schiff und machte mich auf den Weg nach Kappelskär, einem der Fährhäfen zu den Åland-Inseln.

Åland-Inseln

Die Tage auf den Åland-Inseln ließ ich recht ruhig angehen. Ich hatte mich auf der Fahrt durchs schwedische Inland stark erkältet und fühlte mich etwas schlapp. So machte ich nur einen Tagesausflug nach Kumlinge, einer der äußeren Åland-Inseln. Die Fährfahrt nach Kumlinge war recht rauh. Trotzdem genoß ich es, an der Reeling zu stehen, mir die Gischt ins Gesicht wehen zu lassen und die tausenden kleinen Inseln vorbeiziehen zu sehen. Auf Kumlinge erwartete mich dann auch wieder etwas Sonnenschein und ... gähnende Leere. Nach einer Nacht auf einem bereits geschlossenen Campingplatz machte ich mich am nächsten Morgen mit der Fähre wieder auf den Rückweg auf die Hauptinsel. Die Åland-Inseln sind sicher ein Fahrradparadies, aber allerdings auch ziemlich öde, wenn außerhalb der Saison so fast gar nichts los ist und man auf viele geschlossene Saisonbetriebe stößt.

Nachts holte ich dann Heiko von einer Fähre aus Stockholm ab. Wie verrückt muß man eigentlich sein, nachts um drei noch ein Bad im Meer zu nehmen? Heiko kann diese Frage sicher beantworten ...  Wir verbrachten noch einen Tag auf den Åland-Inseln und machten einen Ausflug in den Nordwesten nach Eckerö. Hier suchten wir uns einen Felsen am Meer, wo wir bei einem längeren Picknick inklusive Postkarten schreiben, baden gehen und dem An- und Ablegen der Fähren beobachten die warmen Sonnenstrahlen genossen. Wie sich herausstellen sollte, war dieses der letzte so richtig warme Tag in diesem Urlaub. Abends bestiegen wir dann in Mariehamn die Fähre nach Turku in Finnland.

Finnland

Obwohl wir entlang der Süd-West-Küste Finnlands bis nach Helsinki fahren wollten, führte uns der Weg erstmal in Richtung Binnenland. Um der Hauptstraße zu entgehen, nahmen wir einen Umweg in Kauf. Uns wurde ziemlich schnell klar, daß Finnland durchaus nicht unhügelig ist. Hinzu kommt, daß die Straßen - oder zumindest die Radwege - anscheinend im "Gradienten-Verfahren" gebaut wurden, d.h. möglichst immer den steilsten Weg auf den nächsten Hügel nehmend!

Aufgrund der vielen Meereseinschnitte im Südwesten Finnland konzentriert sich der Verkehr auf ein paar Brücken. Deswegen konnten wir nicht mehr so gut auf kleine Nebenstraßen ausweichen, sondern waren auf vielbefahrene Hauptstraßen angewiesen. Das Wetter zeigte sich auch wieder von seiner tristen Seite und die langen Waldstrecken, die wir passierten, drückten schon etwas aufs Gemüt. Teilweise kam es uns dann doch nur noch wie Kilometerklopperei vor - nicht wie Genußradeln. Als wir an einer Bushaltestelle mitten im Wald eine kleine Pause machten, entdeckten wir einen an die Wand des Wartehäuschens gepinselten Spruch, der ein wenig diese Stimmung widerspiegelte:

When I woke up this morning
I got myself a beer
The future is uncertain
The end is always near.
Nach knapp drei Tagen erreichten wir dann in Helsinki das Olympiastadion und die dort integrierte Jugendherberge. Es stellte sich als sehr gut heraus, daß wir bereits von Turku aus reserviert hatten. Etwas nach uns kam eine Gruppe von Deutschen an, die schon keinen Platz mehr fand. Da auch sie mit dem Fahrrad unterwegs waren, konnten wir ihnen die Situation richtig gut nachfühlen. Sie schienen es aber nicht so schlimm zu finden und machten erstmal ein Picknick vor der Jugendherberge. Als sie von ihrer Tour erzählten, kam uns unser bisheriger Trip doch eher wie ein kleiner Wochenendausflug vor: sie waren von Deutschland aus über Dänemark und Schweden bis zum Nordkap und über Finnland wieder zurück nach Helsinki gefahren! Na ja, das waren ja nur so schlappe 5000 km ... Daß es sie dann nicht so aus der Bahn wirft, in Helsinki keinen Platz in der Jugendherberge zu finden, konnten wir nachvollziehen.

Baltikum

Nachdem wir den ersten (größeren) Teil der Tour gemeinsam hinter uns gebracht hatten, ging es jetzt für mich (Carsten) alleine weiter. Die Tour ins Baltikum trat ich mit gemischten Gefühlen an: einerseits war meine Motivation Fahrrad zu fahren aufgrund des Wetters in Finnland doch ziemlich gesunken, andererseits reizte es mich unheimlich, wieder ins Baltikum "zurückzukehren", wo ich im Spätsommer 1993 ein zweimonatiges Praktikum absolviert hatte. Ich hatte die Zeit als sehr intensiv erlebt und währenddessen viele schöne und interessante Orte kennengelernt. Nun war ich sehr gespannt darauf, was sich alles in den zwei Jahren verändert hatte. Da die Neugierde und Vorfreude überwogen, machte ich mich schließlich auf den Weg ins Baltikum.

Estland

Nach gut dreieinhalb Stunden Überfahrt von Helsinki ging es in Tallinn von der Fähre. In der Touristeninformation bestätigte man mir, daß der Campingplatz, der in meinem Reiseführer aufgeführt war, noch existierte und auch geöffnet hatte. Allerdings sagte man mir nicht, wie weit es sei. In meinem Führer stand nur: "1 km außerhalb Tallinns an der Straße nach Pärnu". Daß der Stadtrand aber 14 km von der Innenstadt entfernt liegt, verschwiegen sowohl das Buch, als auch die Frau in der Information! Nachdem ich mindestens fünfmal dachte, mich verfahren zu haben, kam ich an den Stadtrand und die Straße wurde zur Autobahn! Glücklicherweise wußte ich schon von meinem letzten Baltikumaufenthalt, daß Radfahrer auf Autobahnen im Baltikum nichts besonderes sind! Also ab auf den Standstreifen. Nach einem Kilometer tauchte auch wirklich der gesuchte Campingplatz auf.

Meine erste Baltikumetappe wurde von Sonnenschein begleitet. Zunächst ging es erstmal zehn Kilometer weiter auf der Autobahn. Mittlerweile hatte ich mich an das Gefühl gewöhnt und es ging so richtig gut voran. Komisch war es nur noch, eine richtige Autobahnausfahrt mit dem Fahrrad zu befahren. Ich verließ den direkten Weg nach Pärnu und Riga und nahm die Hauptstraße an die Küste in Richtung Haapsalu. Schließlich wollte ich ja nicht nur quer durchs Baltikum brettern, sondern auch etwas von der Landschaft mitbekommen. Und diese wurde immer schöner. Obwohl ich mich noch immer auf einer Hauptverbindungsstraße befand, war von Autoverkehr nicht viel zu bemerken. Im Durchschnitt alle zwei bis drei Minuten kam mal ein Fahrzeug vorbei. Ansonsten konnte ich ganz in Ruhe die Straße entlanggleiten. Die Gegend war flach wie gebügelt, und wenn ein Wind geweht haben sollte, so muß er von hinten gekommen sein. Nach dem Nerv in Finnland eine sehr angenehme Abwechslung.

An der Küste Estlands angekommen, fuhr ich entlang der sehr schönen Küstenstraße bis nach Pärnu. Pärnu ist ein alter Badeort, der mal wirklich sehr schön gewesen sein muß, mittlerweile aber doch recht renovierungsbedürftig ist. An vielen Stellen läßt sich aber noch sein alter Flair erahnen.

Lettland

Südlich von Pärnu fuhr ich entlang der "Via Baltika" in Richtung Riga. Ab der Grenze ging es entlang der Hauptstraße kilometerlang durch dichten Wald, so daß trotz der Nähe zum Meer selten etwas von ihm zu sehen war. Je näher ich in Riga kam, desto stärker wurde der Verkehr. Trotzdem stellten nicht die Autos die eigentliche Gefahr dar, sondern die unter Pfützen versteckten Schlaglöcher. Irgendwie erreichte ich dann aber doch noch heil die Innenstadt.

Nachdem ich einen Tag in Riga verbracht hatte, machte ich mich recht früh am Morgen auf und fuhr auf fast unbefahrenen Straßen nach Jurmala. Jurmala ist ein ca. 20 km langer Ort, der sich vor Riga an einer Ostseebucht entlangzieht und einen herrlichen weißen Sandstrand zu bieten hat. In der UdSSR war dieser Ort das Urlaubsziel für verdiente Sowjetbürger. Mittlerweile stehen aber viele Pensionen und Hotels leer und verrotten langsam. Trotzdem strahlt Jurmala (ähnlich Pärnu) noch immer einen alten Seebadcharme aus. Die folgenden 20 km waren wohl der schönste Streckenabschnitt während der gesamten Reise! Der Sand war nämlich fest genug, um mein Fahrrad trotz Gepäcks nur wenige Milimeter einsacken zu lassen. Und so radelte ich für anderthalb Stunden ein bis zwei Meter neben der Ostsee den fast menschenleeren Strand entlang und genoß es einfach nur!

Obwohl ich geplant hatte, die gesamte Küste Lettlands abzufahren, bog ich ca. 25 km nach Jurmala von der Küstenstraße ab. Diese führte nämlich ausschließlich durch dichtes Waldgebiet und von der nur maximal 100 m entfernten Ostsee war kaum etwas wahrzunehmen. Schon nach einigen Kilometern in Richtung Inland wurde der Wald lichter und die Landschaft leicht hügelig. Nach einer Woche Fahrt über flaches Land, bot dieses für mich eine nette Abwechslung. Ich konnte so manchen schönen Ausblick genießen, ohne dafür zu starke Steigungen in Kauf nehmen zu müssen.

Da es bereits gegen Herbstanfang ging, wurden die Tage doch merklich kühler. Während des Abendessens, das ich in meinem Zelteingang einnahm, ging bereits die Sonne unter und es kam eine merkliche Kälte über den Boden gekrochen. So lag ich bereits gegen acht Uhr in meinem Daunenschlafsack und wagte noch nicht einmal, die Arme zum Lesen herauszustrecken. Der nächste Morgen erwartete mich dann mit Sonne, Rauhreif und einem Klötern in meiner Trinkflasche! Es hatte nachts gefroren. Die Sonne hatte aber noch genügend Kraft, um den Rauhreif recht schnell zu vertreiben und die Luft wieder anzuwärmen. Nach einigen Kilometern Fahrt war mir so auch wieder angenehm warm.

Es ging weiter durch die wunderschön hügelige Landschaft zur Westküste. Obwohl der Weg entlang der Ostsee landschaftlich sehr schön war, da man hier freie Sicht aufs Meer hatte, war die Fahrt auf der Küstenstraße eine einzige Katastrophe. Nicht nur die waschbrettartig ausgefahrene Schotteroberfläche machte mir zu schaffen, sondern auch die LKWs, die an mir vorbeidonnerten. Die Fahrer hielten kaum Abstand und fuhren auch so schnell, daß ich heilfroh sein konnte, keinen Kieselstein abzubekommen. Und danach mußte ich dann für einige Minuten durch eine Staubwolke fahren. Nach den längsten 15-20 km dieser Tour wechselte der Belag endlich wieder und ich dachte, ich schwebe nur so dahin. Zwar schmerzte mein Hinterteil noch ein wenig, aber das Gefühl in den Händen kam recht schnell zurück. So glitt ich die Straße entlang, immer wieder von Hunden angebellt, die es - wie überall im Baltikum - wohl nicht ertragen konnten, daß jemand an ihrem Haus und Hof vorbeiradelte.

Litauen

Ich machte in Palanga Station, 30 km hinter der lettisch-litauischen Grenze. Palanga ist der Badeort in Litauen und soll im Sommer von jungen Leuten fast überbevölkert sein. Jetzt zum Sommerende war es schon leerer, so daß ich keine Probleme hatte, eine nicht zu teure Unterkunft zu finden. Da der Nachmittag noch früh war, machte ich mich erstmal auf ein Besichtigungstour durch Palanga und besuchte das Bernsteinmuseum, das die wohl größte Bernsteinsammlung der Welt sein eigen nennt! Gerade die Stücke mit Einschlüssen von Insekten und Blättern waren hochinteressant.

Die letzte Etappe meiner Reise war nur noch sehr kurz. So kam ich schon im Laufe des Vormittags in Klaipeda an und besuchte nachmittags das Aquarium und eine Delphinshow auf der Kurischen Nehrung. Diese ist eine ca. 100 km lange Sanddüne, die von Kaliningrad in der russischen Enklave bis nach Klaipeda reicht und eine maximale Breite von ein paar Kilometern erreicht. Die Nehrung grenzt das Kurische Haff von der Ostsee ab und läßt nur bei Kleipeda eine wenige hundert Meter breite Öffnung zwischen Haff und dem offenen Meer. Teilweise bietet die Nehrung eine Dünenlandschaft, die einen an die Sahara denken läßt - weit und breit nur Sand. Der schönste Ort auf der Nehrung ist sicher Nida, das 50 km von Klaipeda entfernt nahe der Grenze zu Rußland liegt.

Der Fähranleger für die Fähre, die von Klaipeda nach Neu Mukran auf Rügen fährt, liegt 12 km südlich von Klaipeda am Kurischen Haff. Auf dem Weg dorthin ging es vorbei an einem riesigen Markt, auf dem wohl wirklich alles zu kaufen ist, und als ich dachte, ich hätte mich völlig verfahren, war ich da. Das Schiff sollte am frühen Nachmittag ablegen. So checkte ich ein, kam durch den litauischen Zoll und mußte mit anderen Privatreisenden in einem kleinen eingezäunten Areal warten, bis wir an Bord durften. Die Zeit wurde länger und so kam ich mit einigen von ihnen ins Gespräch. Da war eine Gruppe Deutscher, die für ein paar Tage Litauen besucht hatte. Es stellte sich aber schnell heraus, daß die Leute leider so gut wie gar nichts von Litauen mitbekommen hatten. Jedenfalls ging mir ihr unwissendes, aber zugleich besserwisserisches Gerede ziemlich schnell auf den Geist.

Am nächsten Morgen war dann also der letzte Tag meines Urlaubs angebrochen. Mir war schon länger klar gewesen, daß ich nicht mehr auf Rügen und an der mecklenburgischen Ostseeküste radeln wollte. Die Luft war einfach raus und auch das Wetter konnte mich nicht mehr umstimmen. So fuhr ich direkt vom Fähranleger nach Sassnitz und ließ mir die nächste Verbindung nach Hannover raussuchen. Und abends gegen zwanzig Uhr war ich dann nach einer langen und abwechslungsreichen Reise wieder zu Hause!

Roadbook

Die hier angegebenen Orte müßten alle auf größeren Übersichtskarten (1:1.000.000) zu finden sein.

Hannover - Zug nach Rostock - Gedser - Væggerløse - Stubbekøbing - Klintholm (Møns Klint) - Stege - Præsto - Fakse Ladeplats - Hårlev - Køge - Hedehusene - Lillerød - Humlebæk - Helsingør - Helsingborg - Mjöhult - Ängelholm - Båstad - Mellbystrand - Halmstad - Gullbrandstorp - Falkenberg - Glommen- Varberg - Tångaberg - Åsa - Kungsbacka - Billdal - Göteborg - Kungälv - Trollhättan - Vargön - Flo - Såtenäs - Lidköping - Mariestad - Ullervad - Göta Kanal - Halna - Undenäs - Tived - Askersund - Hallsberg - Svennevad - Kilsmo - Hampetorp - Fiskeboda - Hållsta - Åkers styckebruk - Mariefred - Södertälje - Stockholm - S. Ljusterö - (Furusund) - Spillersboda - Kappellskär - Mariehamn - Långnäs - Kumlinge - Vårdö - Prästö - Godby - Mariehamn - Storby - Gölby - Mariehamn - Turku/Åbo - Lieto - Paimio - Sauvo - Eknäs - Kimito/Kemiö - Perniö - Karis/Karjaa - Siuntio/Sjundeå - Espoo/Esbo - Helsinki - Tallinn - Lihula - Vaiste - Pärnu - Saulkrasti - Riga - Jurmala - Talsi - Kuldiga - Alsunga - Liepaja - Palanga - Klaipeda - Neu Mukran - Saßnitz - Zug nach Hannover

Internet

Dieser Text stellt die gekürzte Form eines Reiseberichtes dar, der in voller Länge und mit Karten & Bildern im Internet zu finden ist [http://www.heikopurnhagen.net/travel/ostse95b.html]. Auf Anfrage können wir ihn auch als e-mail durch das Netz reisen lassen ...
Carsten Stolzenbach <carsten.stolzenbach@gmx.de>
Heiko Purnhagen <mail@heikopurnhagen.net>


Heiko Purnhagen 23-Feb-1999 / 13-Sep-2009
Carsten Stolzenbach 11-Jul-2001